Gleich zu Beginn des Grünbuches wird klargestellt, dass es keine Abkehr von der wettbewerblichen Koordinierung des Stromsystems geben soll. Die soll vielmehr weiterentwickelt werden zu einem "Wettbewerb der Flexibitätsoptionen".
Die Frage, um die es „im Kern“ geht, wird zwar recht offen formuliert: „Wie sollen das zukünftige Marktdesign und der Ordnungsrahmen für den Stromsektor aussehen, um bei steigenden Anteilen von Wind- und Sonnenenergie eine sichere, kosteneffiziente und umweltverträgliche Stromversorgung zu gewährleisten?“ jedoch wird gar kein Zweifel daran gelassen, dass Marktdesign und Ordnungsrahmen der Zukunft eine Weiterentwicklung des Bestehenden sein sollen.
Als eine Art Begründung heißt es einleitend: „Die Liberalisierung und der europäische Binnenmarkt steigern die Effizienz des Stromversorgungssystems…“ und an anderer Stelle in Kapitel 2 : „In der ersten Phase der Energiewende hat sich der derzeitige Strommarkt grundsätzlich bewährt…Der Markt hat dabei bemerkenswerte Anpassungsleistungen gezeigt.“
In Teil I gibt es in Kapitel 1 dann eine ausführliche Darstellung des derzeitigen „Strommarktes“ , d.h. der Funktionsweise des aus einer ganzen Reihe von Märkten und Regulierungen bestehenden bzw. von der Netzagentur ausgeführten Sektor-Koordinierung. Man fragt sich, wieso dieses lehrbuchhafte Kapitel hier eingeschoben ist. Will man diejenigen, die man zur Diskussion einlädt, erst einmal „auf Stand bringen“? Offenbar soll hier ein „framing“, ein Rahmensetzen der Diskussion stattfinden, ähnlich wie bei der Formulierung der Zielsetzung in der Einleitung, die ich ein meinem ersten Kommentar zum Grünbuch-Entwurf bemerkt habe.
In diesem Kapitel 1 erfolgt keinerlei Analyse oder Diagnose mit Belegen, ob und inwiefern dieses System die Erfüllung seiner „Synchronisierungsaufgabe“ und die Vorhalte- und Einsatz-Funktionen wirtschaftlich, umweltfreundlich und sicher geleistet hat. Man ist offenbar zufrieden mit der Effektivität, mit der das System die zweifellos enormen Herausforderungen der Energiewende bzw. die unerwartete Steigerung des variablen Dargebots von Strom aus Erneuerbaren Energien. gemeistert hat. Welchen Anteil die „Liberalisierung“ z.B. an den Preissteigerungen und den steigenden Börsenkurse der großen Erzeuger im vorigen Jahrzehnt hatte, und andere Themen scheinen nicht relevant. Damit werden sich vermutlich nicht alle gesellschaftlichen Gruppen zufrieden geben. Ich nehme an, dass Verbraucherschützer das kritisieren und radikale Vertreter der dezentralisierten Stromversorgung insbesondere der Solarenergie dagegen aufbegehren werden. Wenn man allerdings die Produkte der Beratungslandschaft einschließlich Öko-Institut und auch die seit einigen Jahren entstandenen Moderationsplattformen wie Agora Energiewende sieht, scheint es einen Konsens zu geben, dass der mit den Reformen der letzten Jahrzehnte entbündelte „Strommarkt“ im Prinzip als Koordinierungsmechanismus die Basis der weiteren Entwicklung sein soll.
In diesem Kapitel 1 gibt es im Übrigen die Überschrift „Strompreissignale steuern Erzeuger und Verbraucher“. Klarer als mit dem Wort „steuern“ könnte nicht ausgedrückt werden, welches Verhaltensmodell dem Grünbuch und den Vorschlägen zugrunde liegt. Es ist ein ziemlich mechanistisches Rationalverhaltensmodell. Was ist, wenn die Marktteilnehmer uns nicht den Gefallen tun, sich so zu verhalten? Komplexere Modelle der Verhaltens-Ökonomie, in denen andere Verhaltensmuster gerade unter Risikoaspekten unterstellt werden Können, finden hier keine Anwendung. Das ist auch nicht in den zugrundeliegenden Studien der Fall, die ich hier, hier und hier kommentiert habe. Das Gastspiel von Axel Ockenfels als EWI Direktor ist offenbar ohne Einfluss auf die Energiepolitische Beratung geblieben.
Aus der schon zu Beginn erfolgten Festlegung auf das existierende System erfolgt dann in Kapitel 2 „Herausforderungen“ , dass diese nicht generell sondern gezielt für den gegebenen Strommarkt formuliert werden, Bei den „Herausforderungen“ in diesem Teil geht es um die mittelfristige Bewältigung des aktuell Problems, wie die stark schwankende Residuallast bei Vorrang für die Erneuerbaren kosteneffizient und sicher gedeckt werden kann angesichts fossiler Überkapazitäten und Bedarf an Mindestkapazitäten. In Anbetracht der klaren Präferenz für die marktlichen Lösungen und der Erfahrungen mit der Anpassungsfähigkeit des existierenden Systems werden dann konsequenterweise in Kapitel 3 mit „Flexibilisierung“ und „Wettbewerb der Flexibilisierungs-Optionen“ die Lösungsprinzipien genannt, für die man sich entschieden hat. Das ist dann die Weichenstellung für die Weiterentwicklung des Bestehenden.
Wer sich gefragt hat, wie all die technischen Optionen zur Nutzung variabler und flexibler Erzeugung, Nachfrage, Speicherung und in Netzen künftig einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden sollen, findet hier die prinzipielle Antwort: alle, die so etwas betreiben, sollen an den geeigneten und entsprechend zu organisierenden Märkten teilnehmen! Damit soll offenbar auch Raum und Anreiz für radikale Technologie- Innovationengeschaffen werden, die von der Expertenkommission Forschung und Innovation beim EEG bemängelt werden (vgl. Diskussion in NDS).
Bei aller Flexibilisierungsbegeisterung findet sich aber im Grünbuch kein Ansatz, die nach dem alten EEG behandelten Erzeugungsanlagen in die Flexibilisierung einzubeziehen. Es handelt sich immerhin um mehrere zig GW, die gewissermaßen in die feste Einspeiseregelung eingeschlossen sind und kein Interesse an der Direktvermarktung haben, solange sie daraus nicht gewinnen können. In den Nachdenkseiten wurde bereits im April ein Vorschlag skizziert, die Altanlagen auf das EEG 2014 umzustellen bzw. mit einer Abfindung dazu anzureizen. Wenn das - mit Steuermitteln oder mithilfe eines Kreditfonds - gelänge, könnte man auch die EEG-Umlage deutlich senken, und etwas für die "Bezahlbarkeit" tun.
In Teil II stellen die Autoren dann die Politik die geplanten Maßnahmen der Bundesregierung vor, außer der Politik zur Sicherung der jederzeitigen Verfügbarkeit, für die sie in Teil III alternative Lösungen zur Diskussion stellt, also zu der sie noch keine Entscheidung getroffen hat.
Die geplanten Maßnahmen in Teil II werden etwas unglücklich „Sowieso- Maßnahmen“ genannt, was in Zeiten der Kritik an „alternativloser Politik“ sofort zu kritischen Kommentaren führen wird, zu recht da ja keine Alternativen diskutiert und bewertet wurden. Tatsächlich sind es in Kapitel 4, 5 und 6 zumeist Maßnahmen, die sich aus dem der vorangegangene Vorgabe (Weiterentwicklung des existierenden Strommarktes) ergeben. Der Ausdruck "sowieso" kommt also nicht nur daher, dass unter den Autoren eventuell Schweizer sind.
Sehr bemerkenswert ist dann, dassauch daran gedacht ist, „Netzentgelte und staatlich veranlasste Preisbestandteile weiter[zu] entwickeln“. Hier taucht plötzlich eine Vielzahl von Ideen auf, die nicht nur „Marktsignale für Erzeuger und Verbraucher stärken“ würden, sondern auch andere Allokations- und Verteilungswirkungen hätten: „Sonderregelungen anpassen“ (was ist hier gemeint?), „Leistungspreise stärken“, insbesondere „Aufschläge prozentual statt fix ausgestalten“ eventuell auch die EEG Umlage, und „Abgaben auf Brennstoffe umlegen“ auch bei der Stromsteuer. Das wäre doch mal ein Versuch, das Sediment der Energiepolitik zu rationaler und auch bezahlbar umzugestalten!
Recht vage wirken die Maßnahmen zu Kapitel 7 „Europäische Kooperation intensivieren“ und 8 „Die Klimaschutzziele erreichen“, wo der Ehrgeiz zur Modifizierung des europäischen Emissionshandels sich sehr in Grenzen hält. Man mag sagen, dass es realistisch ist, aber es ist ein Zeichen von mangelnder Ambition und Mutlosigkeit, sich damit abzufinden. Das eignet sich als Thema fuer einen weiteren kritischen Blog.
In Teil III wird dann die Diskussion eröffnet zur Kapazitätsvorhaltung: Kapazitätsmarkt oder fortentwickelter „Energy Only Market“ (hier wird weitgehend aus Studien referiert, die ich hier kommentiert habe), Internationale Zusammenarbeit, und Kapazitätsreserve.
Bei aller Kritik will ich dem BMWi die Anerkennung für dieses Vorgehen nicht versagen zu breit mitgetragenen Lösungen zu kommen. Nun ist das Suchen von Konsens in der deutschen Energiepolitik nichts Neues. Solcher Konsens ist aber in der Vergangenheit eher zwischen Regierung und Interessengruppen (Wirtschaft, Energieversorger, Gewerkschaften usw. ) hergestellt oder in Kommissionen gesucht worden. An einen breiten an die Bevölkerung gerichteten Diskussionsaufruf wie diesen auf der Grundlage von breitangelegten Studien, Grünbuch und Weißbuch in einer so komplexen Thematik kann ich mich nicht erinnern.
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